In der Rosenstraße, unweit des Hackeschen Marktes, treffen sich an einem Samstag Mittag fünf Frauen. Nur langsam und unsicher kehren Besucher und Einheimische in diese Touristenzone zurück, die Coronalage ist noch so unsicher wie das Wetter. Sonne und plötzliche Regengüsse wechseln sich ab. Doch die kleine Gruppe, unter ihnen eine Altenpflegerin aus Polen, eine Bibliothekarin aus Deutschland und eine junge Dame mit türkischen Wurzeln, wird sich von ihrem Vorhaben nicht abhalten zu lassen. Alle wollen an einem Ausflug in die Geschichte teilnehmen. Die entsprechende Route hat eine Frau geplant und vorbereitet, die sich bestens auskennt: Nirit Ben – Joseph, die 60 jährige Stadtführerin aus Berlin, eine energische und gut gelaunte Person, die sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn sie spricht, erklärt und Fragen stellt, Anekdoten einstreut und den Bogen spannt von den Anfängen der Stadtgeschichte bis zu den Gräueln der Nazidiktatur, spüren die Zuhörer sofort, dass Nirit sehr genau weiß, wovon sie spricht.
1961 in Israel geboren und seit 1987 in Berlin lebend, arbeitet sie seit der Wende als Reiseleiterin und gehört zu den profundesten Kennerinnen deutscher und jüdischer Geschichte. Vielleicht erwartet man nun von solch einer Person stets ernste, leicht vorwurfsvolle Mimik routinierter Betroffenheit, strenge, würdevolle und deshalb stockend vorgetragene Sätze; weil ja auch diplomatisches Personal der israelischen Botschaft, Minister, Militärattachés und Parlamentsmitglieder zu ihren Kunden gehören. Aber schon nach wenigen Minuten und ersten Erläuterungen wird klar: Theatralik ist Nirit fremd, ihr geht es um Fakten, um Wissensvermittlung. Was sie nicht nachlesen oder sich von anderen berichten lassen konnte, hat sie persönlich recherchiert. Sie ist klug, aber sie gibt nicht damit an. Das macht sie auf Anhieb sympathisch und schnell gewinnt sie die ganze Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe. Dabei hilft Nirit, was sie besonders gut kann: eindringliches und anschauliches Erzählen, ihre Hände und Arme stets in Bewegung, und vor dem Bauch ein ausreichend großes tablet mit abgespeicherten Ansichten, Bildern und Portraits v.a. aus der Zeit der Nazidiktatur. Heute bleibt die Tour auf das weite Areal um den Hackeschen Markt begrenzt, überbordende Geschichte auf kleinstem Raum, von der Rosenstraße zur Alten Synagoge, von der Großen Hamburgischen bis zur Oranienstraße.
Ihre Kindheit und Jugend in Israel verlief, so sagt sie, ziemlich normal: Kleinstadt, Gymnasium, Armeedienst, Scheidung, Studium der Film und TV Wissenschaft an der Universität von Tel Aviv. Sie war ein Bücherwurm, spielte begeistert Theater, interessierte sich für Geschichte, Literatur und Philosophie, arbeitete in einer Produktionsfirma und fuhr nach München zu einem Filmfestival, wo sie ihren zweiten Mann kennenlernte, einen Deutschen, in dessen Heimat sie ihm folgte, der Liebe wegen. Davon waren in Israel nicht alle begeistert, v.a. nicht ihre Großeltern, niemand hatte den Holocaust vergessen oder verdrängt.
Aber Nirit ist ein Dickkopf und die deutsche Kultur ist ihr nicht fremd. Sie ist bedingungslos neugierig, denn schließlich, so denkt sie, seien die Deutschen alle gebildet. Die Verwunderung folgt auf dem Fuß. Mit einer kleinen Super 8 Kamera zieht sie durch die Stadt und tatsächlich: auch in Deutschland gibt es einfache Leute, Arbeiter, Angestellte, ganz und gar normale Menschen. Manches ist dann aber doch ziemlich merkwürdig. Dass man beispielsweise in Kreuzberg am 1. Mai Steine auf Polizisten schmeißt, der eigene Staat zum Feind erklärt wird. Das kennt Nirit so wenig wie das Unverständnis und die Empörung mancher der neuen Bekannten darüber, dass sie als Frau ganz selbstverständlich in der israelischen Armee gedient hat. Wie merkwürdig auch, dass viele Deutschen so schlecht auf sich selbst zu sprechen sind. Wirklich im Reinen mit sich selbst scheinen sie nicht zu sein, ziemlich verkorkst so mancher. Aber Nirit mag diese Stadt an der Spree, interessiert sich für ihre Geschichte, kann zuhören, sich erzählen lassen und lesen, was ihr darüber in die Finger kommt.
Nur beruflich fasst sie nicht richtig Fuß und dadurch fing alles an mit den Stadtführungen. Ihr Onkel und ihre Tante, zu Besuch in Berlin und von Nirit durch die Stadt gelotst, sind beeindruckt von Nirits Wissen, raten ihr, damit Geld zu verdienen. Warum eigentlich nicht? Aber die Idee muss reifen. Sie macht die Tourismusmesse ITB zum Testfall, bietet speziell für Israelis Touren auf hebräisch an und erkennt sehr schnell diese Marktlücke. Jetzt macht sich Frau Ben – Joseph auch beruflich einen Namen. Und als sie 1999 in Israel ein Heft über das neue Berlin und all die geschichtsträchtigen Orte der Stadt veröffentlicht, ist der Durchbruch geschafft.
Anfangs ist Nirit unsicher, welchen Stellenwerte die Orte und Gedenkstätten nationalsozialistischer Terrorherrschaft und Judenverfolgung im Rahmen ihrer Stadttouren haben soll. Aber im Gespräch mit den Teilnehmern ihrer Führungen wird allmählich klar, wie ausgesprochen wichtig dies ist. So wird das Haus der Wannseekonferenz, das Holocaust Mahnmal neben dem Brandenburger Tor, die Topographie des Terrors, der Friedhof in Weissensee und viele andere Orte zum festen Bestandteil ihrer Stadtführungen. Die deutschen Touristen sind eher an anderen Themen interessiert: Mauerbau, Kalter Krieg, die Zeit alliierter Besatzung. Aber 80 % ihrer Anmeldungen kommen von Israelis, amerikanischen und englischen Juden, weniger Deutsche und es sind gerade die Besucher aus Israel, die ihr, der Nirit, mitunter bohrende Fragen stellen: Warum lebst Du ausgerechnet in Berlin? Wie gefährlich ist das für Dich ? Ist Dein Mann Jude? Gibt es Antisemitismus und wie erlebst Du ihn?
Zwischendurch dreht Nirit einen eigenen Film, der später in kleinen Kinos gezeigt wird. „ You look so german „ spürt ihrer eigenen Familiengeschichte nach. Sie setzt sich dieser erschütternden Spurensuche im Nazi Deutschland aus, weil sie noch immer unter dem schlechten Gewissen leidet, nur wenig von der Vergangenheit ihrer verzweigten Familie zu wissen. Sie empfindet diese Filmarbeit als eine Art Reinwaschung, als persönliche Gutmachung für ihre Entscheidung, trotz allem in Deutschland zu bleiben.
Je mehr sich die Führung der kleinen Gruppe an diesem Samstag dem Ende zuneigt, desto mehr fällt auf, dass Nirit an all den aufgesuchten Erinnerungsorten auf jegliches Pathos oder demonstrative Erschütterung verzichtet hat. Natürlich holt sie manche Lebens-und Leidensgeschichte ein, wenn sie abends von einer Führung mit Israelis nach Hause kommt. Sie hat Alpträume und manchmal machen sie sie krank. Aber sie weiß auch: niemand der Nachgekommenen kann sich heutzutage den Holocaust wirklich vorstellen. Er ist auch nicht nachträglich zu inszenieren. Und: es gibt keinen Zwang zur Erschütterung, zum Entsetzen, zur Betroffenheit. Nirit geht es um die Vermittlung von Wissen, nicht um das Drücken der Tränendrüsen. Solch ein Stolperstein im Straßenpflaster ist sehr sinnvoll, sagt sie. Und sie fragt sich, warum nicht jeder Bewohner einer Wohnung oder eines Hauses durch einen einfachen, sachlichen Brief vom zuständigen Amt darüber informiert wird, wer vorher dort gewohnt hat und was ihm während der NS Zeit widerfuhr?
Lernen die Menschen eigentlich aus der Geschichte? Sie zögert mit der Antwort. Vielleicht ist es schon gut, sich daran zu erinnern, dass es zu jeder Zeit auch Menschen gab, die anderen geholfen haben. Die die Verfolgten versteckten. Nicht mitmachten, sich wehrten. Leise oder laut. Wie in der Rosenstraße, wo die Führung mit Nirit begann. Hier protestierten 1943 nichtjüdische Frauen erfolgreich gegen die Deportation ihrer jüdischen Ehemänner.
Text : Axel Svehla